Wenn die Dunkelheit nicht ganz so heilig ist (Lesezeit ca. 10 Min.)
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Siat -
7. November 2021 um 18:12 -
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10 Minuten
Da ist sie wieder, die dunkle Jahreszeit.
Es ist DIE Jahreshälfte, die mit wohl mehr mit „dunklen“ Göttinnen assoziiert wird.
Es liegt ja auch auf der Hand. – Zumindest in unseren Breiten. Nimmt doch die Zeit, in der die Helligkeit unser Leben bestimmt, bis zur Wintersonnenwende kontinuierlich immer weiter ab, sodass Dunkelheit und Kälte einen Großteil unseres Lebens bestimmt.
„Dunkle“ Göttinnen gibt es wahrlich so einige. Hel und Perchta, die Cailleach und die Morrighan, Hecate, Sekhmet, Kali, Inanna und Ereshkigal sind nur einige Ihrer Namen und Gestalten, die den meisten von uns bekannt sein werden.
Mächtige Göttinnen, die mit „dunkel“ erscheinenden und häufig „negativ“ bewerteten Dingen in Zusammenhang stehen wie dem Alter, Krankheit, Sterben, dem Tod und der Unterwelt, aber auch mit Vernichtung, Zerstörung und Krieg.
Diese Göttinnen scheinen eine besondere Faszination und Anziehung auf viele Menschen auszuüben.
Irgendwo verständlich.
Scheinen doch auf der einen Seite die wohl missverstandensten und dämonisiertesten Göttinnen jene zu sein, die eben mit diesen „Domänen“ in Verbindung stehen.
Auf der anderen Seite ist es wohl grade diese besondere Kraft, Macht und Stärke, Unabhängigkeit und Freiheit, die Sie auszustrahlen scheinen und die mit Ihnen assoziiert wird, die auf viele diese gewisse Faszination ausübt, und die Menschen dazu veranlasst, sich aus den verschiedensten Gründen mit Ihnen auseinanderzusetzen und sich an Sie zu wenden.
Dabei beobachte ich allerdings schon seit vielen Jahren auch die Tendenz mancher Menschen, diese Göttinnen „weichzuspülen“ und in einer Art „Verklärung“ zu betrachten, die, so klischeehaft es auch klingen mag, durchaus gefährlich werden kann. Mein Empfinden dabei ist, dass dieses Bedürfnis des „Weischspülens“ und, ja, auch des „Reinwaschens“ noch immer mit Traumen der Verteufelung und Dämonisierung, aber auch der Verfolgung (auch im übertragenen Sinne) zu tun hat.
Unsere schwarz-weiße Welt
Bei meiner Überlegung spielt vor allen Dingen die Beobachtung (natürlich auch durch eigene Erfahrung gespeist) eine Rolle, dass wir Menschen es gewohnt sind, die Welt durch eine Art schwarz-weiß Filter zu betrachten, der uns anerzogen wurde und bei vielen von uns (noch?) auf einem vorwiegend christlich geprägten Weltbild mit entsprechenden Moral- und Wertevorstellungen beruht.
Wir teilen in der Regel erst einmal alles um uns herum nach einem bestimmten Muster in „positiv“ und „negativ“, „weiß/hell“ und „schwarz/dunkel“, „gut“ oder „böse“ ein.
Dabei wird dann natürlich auch gleich die Assoziationskette so weiter gesponnen, dass automatisch alles, was „positiv“ ist, gleichzusetzen ist mit „weiß“ und „gut“, und alles was „negativ“ ist entsprechend mit „schwarz“ und „böse“. Weiter geht es dann natürlich mit den Gedankengängen, dass alles, was „gut“ und „positiv“ ist für uns Menschen „zuträglich“ ist, und alles, was „schlecht“ bzw. „böse“ ist, von uns tunlichst zu (ver)meiden ist, weil wir uns (unserem Seelenheil, unserem Stand in der Gesellschaft u.s.w.) schaden würden.
Im ersten Moment scheinen diese Gedankengänge mit dem „Weichspülen“ oder „Reinwaschen“ von „dunklen“ Göttinnen nicht viel zu tun habe, oder?
Doch betrachten wir einmal die „Domänen“ dieser Göttinnen.
Fangen wir bei bei Krankheit, Alter und Tod an. Wie steht unsere Gesellschaft zu diesen Themen? Wie gehen wir in unserer Gesellschaft mit Kranken, Alten und ja, auch mit unseren Toten um?
Krankheit, vor allem langanhaltende oder dauerhafte, geht mit einem Leistungsverlust für die Gesellschaft einher. Vielfach ist es auch in unseren Breiten mit einem Verlust von gesellschaftlichen Ansehen verbunden.
Hilfsbedürftig zu werden, auch wenn es unverschuldet ist, ist heute noch mit einer Stigmatisierung verbunden, weil in unserer Gesellschaft nur jene „wertvoll“ erscheinen, die leistungsfähig sind. Die der Gemeinschaft/Gesellschaft etwas zurück geben können (z.B. in Form von Steuerzahlungen).
Das Alter und auch der Tod werden in unserer Gesellschaft als eine Art „Krankheit“ betrachtet, die es zu kurieren gilt. Ewige Jugend und ewiges Leben... DAS gilt als „gut“ und erstrebenswert. Wer will denn schon alt werden und sterben?
Noch offenkundiger wird es wohl, wenn wir uns die Themen „Zerstörung“, „Vernichtung“ und „Krieg“ ansehen.
Es wird wohl kaum jemanden geben, der im ersten Moment sagen würde: „Selbstverständlich sind Vernichtung und Zerstörung gut! Natürlich hat Krieg auch etwas positiv!“
Blicken wir doch nach La Palma, und versetzen uns einmal in die Lage der Menschen, die alles durch den immer noch anhaltenden Vulkanausbruch des Cumbre Vieja verloren haben. Oder versetzen wir uns in die Lage der Menschen z.B. in Afghanistan oder Syrien...
Wie kann man da dann also Göttinnen (oder Götter) ehren, die mit all dem Leid und all der Not in Zusammenhang stehen? Die Seuchen-, Kriegs- oder Todesbringerinnen sind?
Wie kann man, mit ruhigen Gewissen, Andersgläubigen, die einen wegen der Verehrung solcher grausamen und fürchterlichen Göttinnen mit Unverständnis bis hin zur Ablehnung und Verurteilung begegnen, versichern, dass dieses Göttin „in Wirklichkeit“ gar nicht so böse sind?
Genau das ist dann der Punkt, an dem bei manchen Menschen das „Weichspülen“ oder „Reinwaschen“ anfängt.
Entweder wird die „dunkle Seite“ negiert. Die Göttin ist nur allumfängliche Liebe und ewiges Licht. Von Ihr kann nichts „böses“ kommen.
Oder man greift auf den Erklärungsansatz zurück, dass man diese Begriffe bloß nicht wörtlich nehmen dürfe, sondern eher als Metaphern für bestimmte (innere) Prozesse in der (spirituellen) Entwicklung sehen müsse. Da wird Krieg z.B. als etwas interpretiert, das in einem selbst stattfinden kann. Vernichtung und Zerstörung wird mit alten (Verhaltens- oder Denk-) Mustern in Verbindung gebracht. Und der Tod mit dem Sterben des „alten Selbst“, um als „neuer Mensch wiedergeboren“ werden zu können.
Egal welchen der beiden Ansätze man dabei verfolgt, um bei seinem oder seiner Gegenüber eine Art „Verständnis“ oder „Akzeptanz“ für die „dunkle“ Göttin zu erreichen, sie täuschen, meiner Meinung und Erfahrung nach, darüber hinweg, dass die Göttinnen nicht ganz so „leicht“ gestrickt sind, wie wir es wohl manchmal ganz gerne hätten.
Die dunkle (Seite der) Göttin
Auf meinem Weg haben mich, wie so manch andere Menschen, schon so einige dunkle Göttinnen begleitet.
Unter Ihnen die gallische Cathubodva, verkürzt gesagt eine Verwandte der Morrighan, und die indische Kali.
Diese Begegnung haben mich, davon abgesehen, dass sie mich selbst und einen Großteil meines Lebens ganz schön umgekrempelt haben, besonders Eines gelehrt: Die Dunkelheit, die mit diesen Göttinnen assoziiert wird, ist mehr als eine bloße Metapher, und in dieser Dunkelheit ruht auch etwas, das nicht bloß aus reiner Liebe besteht.
Wenn man sich den dunklen Göttinnen wirklich ganz und gar öffnen will, und dies nicht nur in dem Sinne, dass man Sie in Ritualen anruft, um Hilfe und Unterstützung zu erbitten und Zauber zu wirken, dann ist es meiner Meinung nach wichtig, sich bewusst zu machen, dass diese Göttinnen tatsächlich auch das mit sich bringen, was für die Bewältigung Ihrer Aufgaben nötig ist. – Und dass man vielleicht mit noch viel mehr konfrontiert wird.
Was mich besonders tief geprägt (und anfänglich auch zutiefst schockiert und ja, auch geängstigt) hat, waren Dinge wie zutiefst empfundener Hass, Rachegelüste und brennender Zorn. Und dabei keine Spur von „Licht und Liebe“.
Ja, sicher kann man Kali auch als liebende Mutter erleben und erfahren.
Doch Sie hat auch eine ganz andere Seite. Und diese liebt es, in Blut zu waten, aus den Schädeln ihrer Feinde Blut zu trinken, im Blutrausch Ihre Feinde zu vernichten und alles nieder zu mähen, was sich Ihr in den Weg stellt.
Sie trägt einen so... uralten, flammenden und vernichtenden Zorn in sich, mit dem Sie Welten vernichten kann.
Der einen selbst verzehren kann, wenn man sich zu sehr von ihm erfüllen lässt.
Die Zerstörung, die Kali bringt, kann von so einer so grundlegenden Natur sein, dass auch nicht das winzigste Atom von Altem zurückbleibt.
Sie ist die Schwärze und dunkelste Nacht, die alles verschlingt.
Wo Sie wütet, bleibt kein Stein auf dem anderen. Sie hinterlässt Feuer, Asche und blutdurchtränkte Erde.
Mit Cathubodva erlebte ich ähnliches, was ich damals in einem Gedicht niederschrieb:
Du fürchtest Dich, nicht wahr?
Vor meinem Hass? Vor meiner Wut?
Du fürchtest Dich vor Deinem Gefühl in der Brust-
Der Genugtuung
Du verbirgst es-und doch ist es da
Du schämst Dich davor-und dennoch befriedet es Dich
Rache ist einer MEINER Namen
Ausgleich ist ein weiterer
Mein Hass zerstört Welten
Aber meine Liebe heilt
Trink aus dem bitteren Brunnen der Rache
Und Du kannst gesunden
Doch widerstehe der Versuchung, dem Rausch zu verfallen
Trinke aus dem bitteren Brunnen des Hasses
Brenne nieder-zerstöre!
Doch komm wieder zurück-Acht seine Tücken!
Koste von der Quelle der Vergebung
Doch achte auf ihren Schein
Denn viele erlagen ihrem Glanz
Alles hat seine Zeit
© Siat
19.07.07
Als das Gedicht entstand, steckte ich in einer, gelinde gesagt sehr schwierigen Phase.
Ich war durch eine Gruppe von Menschen, die mir sehr viel bedeutet hatten, schwer retraumatisiert worden, und hatte mich – den Göttlichen sei´s gedankt – von ihnen getrennt.
Doch das war erst der Anfang einer ziemlich langen Reise hin zur Heilung.
Auf ihr begleiteten mich ganz unterschiedliche Göttinnen, die mich weit in Begebenheiten meiner (frühen) Kindheit und Jugend zurück führten.
Cathubodva war eine der Ersten, die mir in dieser Zeit begegneten.
Die Lektionen, die Sie mir bereit hielt, hatten allerdings mit viel zu tun, aber wenig mit einer Art „liebevollen Begleitung durch eine Krise“.
In dem Sie mich mit IHREM Hass, Ihrem Zorn und Ihrer Wut konfrontierte, brachte Sie mich (ziemlich unbarmherzig) mit all den Gefühlen in Verbindung, die ich unterdrückt hatte. Dazu gehörten zum Beispiel auch meine dunkelsten Rachegelüsten.
Sie brachte mich an den Rand des gähnenden Abgrundes des Wahnsinns. – Und das nicht nur im metaphorischen Sinne. Und ich hatte so oft das Gefühl, hineinzustürzen und mich vollkommen zu verlieren...
In dieser Zeit lernte ich sehr viel nicht nur über mich selbst, sondern auch über die „dunkle“ (Seite der) Göttin.
Diese Erlebnisse, sowohl mit Cathubodva als auch mit Kali, öffneten mir allerdings auch die Augen dafür, was für einen großen Unterschied es machen kann, auf welche Art und Weise eine Verbindung und die Kommunikation mit den Göttlichen stattfindet, auch wenn man sich manchmal das „Wie“ nicht unbedingt aussuchen kann.
Es ist eine Sache, ob man in und durch ein Ritual Ihre Hilfe und Unterstützung erbittet, und eine entsprechende Antwort erhält, oder ob Sie einen anfüllen und man Ihre „Dunkelheit“ er- und durchlebt. Wenn man sie spürt, und fast hinfort gerissen wird...
Heute macht mir diese Dunkelheit zumindest nicht mehr diese wahnsinnige Angst. Ich bin den Göttinnen dankbar für all die Dinge, die Sie mir gezeigt und mich damit auch gelehrt haben. Dazu gehört auch, dass tatsächlich all das, was vermeintlich „dunkel“ erscheint ebenso seine Berechtigung im Sein und in der Schöpfung hat, wie all das „helle“.
Wir sollten aufhören, die dunklen Göttinnen weichspülen und reinwaschen zu wollen. Nicht jede Dunkelheit ist „heilig“. Nicht jeder Zorn „gerecht“. Aber auch das ist ein Teil, den es anzuerkennen gilt. Vollkommen unabhängig davon, ob andere Menschen, die keinen Zugang zu unseren Göttinnen und Göttern haben, dieses verstehen können oder nicht.
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